Praxis für Hypnose- und Psychotherapie | Claus-Peter Hoffmann

Magersucht (Anorexia nervosa)

Magersüchtige sind auffallend dünn. Sie stehen nicht mehr in Kontakt zu ihrem Körper, wichtig ist ihr Kopf, der kontrolliert und steuert. Der Körper ist ihr Feind, der gierig und bedürftig ist und bekämpft werden muss. Die Kontrolle gibt ihnen das Gefühl autonom und unabhängig zu sein. Betroffene kochen gern und viel für andere, essen selbst davon jedoch nichts oder täuschen das Essen vor. Magersüchtige kommen meist – von außen gesehen – aus sehr harmonisch erscheinenden Familien und hatten in dieser überbehüteten Atmosphäre keine Chance sich selbst auszuprobieren und eine eigene Identität zu entwickeln. Im Verlauf der Erkrankung kapseln sich Betroffene immer stärker ab. Niemand ist ihnen gut genug. Schwarzweißdenken und depressive Verstimmungen machen den Umgang mit ihnen schwer. Dringender Handlungsbedarf für Angehörige und Freunde besteht, wenn Betroffene apathisch reagieren, nur noch mit leiser Stimme sprechen, kraftlos sind und bei dem kleinsten Konflikt mit Weinen reagieren. Dies sind Alarmsignale, die als ersten Schritt einen Arztbesuch nötig machen. Doch: Auffallend schlanke Menschen sind nicht automatisch magersüchtig!

Die Diagnosekriterien für Magersucht sind:Gewichtsverlust von 20% vom Ausgangsgewicht innerhalb kurzer Zeit (ca. 3 – 4 Monate), Gewichtsverlust ist selbst herbeigeführt, z.B. durch: streng kontrollierte und eingeschränkte Nahrungsaufnahme, Vermeidung hochkalorischer Speisen, übertriebene körperliche Aktivität, selbst induziertes Erbrechen oder Abführen (anfallsartig), ständiges übertriebenes gedankliches Kreisen um Nahrung und Figur, Perfektionismus,Hyperaktivität, Körperschemastörungen, d.h. auch bei einem vorhandenen Untergewicht bezeichnen sich Betroffene als »fett«, extreme Angst vor Gewichtszunahme, fehlende Krankheitseinsicht.

Ein übertriebener Sparsamkeits- und Reinlichkeitssinn, sowie Ablehnung jeglicher lustbetonten Betätigung führen häufig zu einer äußerst spartanischen Lebensweise. Die körperlichen Folgeschädigungen sind Absinken des Stoffwechsels, des Pulses, des Blutdrucks und der Körpertemperatur, was zu Müdigkeit, Frieren und Verstopfung führt. Trockene Haut, brüchige Haare zeigen die hormonellen Veränderungen an, die sich auch im Ausbleiben der Menstruation und im Extremfall auch in einer Veränderung der Körperbehaarung äußern. Bei einer Krankheitsdauer von mehreren Jahren kommt es als Folge der hormonellen Veränderungen auch zu Osteoporose. Das Ausbleiben der Menstruation tritt nicht bei einer Hormonbehandlung zur Schwangerschaftsverhütung (Einnahme der Pille) ein. Dies ist dann jedoch kein Beweis dafür, dass keine Magersucht vorliegt.

 

Typische Muster und Abläufe

Pubertäre Magersucht ist meist ein Autonomiebestreben der Jugendlichen, ein gewaltsamer Ablösungsprozess vom Elternhaus. Eine übergroße Fürsorge und Liebe der Eltern machen es der/dem Jugendlichen schwer, eigene Erfahrungen zu machen, sich auszuprobieren und zu fühlen. Überfürsorgliche Eltern ebnen alle Wege, räumen Probleme im Vorfeld aus und bieten fertige Lösungen an. Dazu kommt, dass in einem Haus der offenen Türen, wo keiner etwas zu verbergen hat, es schwer ist, sich abzugrenzen. Eine symbiotische Beziehung der Tochter zur Mutter, in der die eine nicht ohne die andere existieren kann, und ein emotional abwesender Vater, dessen Gefühle nicht erkennbar werden, sind typisch für betroffene Familien. Diese Familien wirken nach außen hin wie eine Festung:
Alles läuft perfekt und harmonisch. In diesem System ist es zunächst unerklärlich, dass eine so schwere psychische Erkrankung auftreten kann. Doch besonders in einem sehr harmonischen Klima besteht eine große Gefahr, doppelbödig zu kommunizieren, etwas anderes zu sagen, als was man fühlt. So übernimmt z.B. die Mutter Pflichten mit einem freundlichen Lächeln und fühlt dabei Wut und Ärger, dass sie sich wieder einmal hat überreden lassen. Der Vater hört scheinbar geduldig zu, wenn Tochter und Mutter über ihre Probleme reden, in Gedanken ist er jedoch bei seiner Arbeit. Ein Kind fühlt Stimmungen sehr sensibel, ein magersüchtiges ganz besonders. Wenn die Worte dann nicht zu den Gefühlen passen bzw. etwas anderes vermitteln, wird es unsicher und traut irgendwann seinen eigenen Gefühlen nicht mehr. Das Kind lernt: »Ich fühle falsch und glaube an die gehörten Worte, also zählt mein Verstand und nicht mein Gefühl.«

Diese Verunsicherung wird dann besonders groß, wenn zwischen den Eltern zusätzlich unausgesprochene Trennungswünsche existieren. Kinder haben große Angst vor Verlust und Trennung. Sie versuchen häufig, über sehr angepasstes Verhalten die vorhandenen Spannungen zu mildern, und entwickeln schnell das Gefühl für das Unwohlsein der Eltern verantwortlich und schuldig zu sein.

Auffallend ist auch, dass Leistung und Perfektionismus einen hohen Stellenwert in den Familien haben und von beiden Elternteilen vorgelebt werden: Der Vater schont sich nicht bei der Arbeit, macht ständig Überstunden und geht auch noch krank seinen Pflichten nach, die Mutter ist Tag und Nacht im Einsatz, richtet Familienfeste perfekt aus, ist immer freundlich zu anderen, kümmert sich sehr um die Großeltern und achtet nicht auf ihre körperlichen Grenzen. Magersüchtige erhalten häufig Anerkennung über Leistung und sind zwanghaft perfektionistisch. Sie sind in der Regel sehr gute Schüler(innen) und können trotz körperlicher Auszehrung lange ihr Leistungsniveau halten. Sie leugnen ihre Bedürfnisse nach Nahrung, Ruhe, Entspannung und »Faulsein« und überschreiten ständig ihre Grenzen. So fühlen sie sich autonom und unschlagbar.
Darüber hinaus entwickeln Magersüchtige oft utopische Erwartungen. Sie glauben mit dem Schlanksein alle Lebens-Probleme lösen zu können. Sobald sie dünn sind, so ihre irrige Annahme, sind alle anderen Schwierigkeiten automatisch gelöst.

Charakteristisch ist auch die Entwicklung von Paradoxien. Gemeint ist hiermit zum Beispiel die paradoxe Tatsache, dass die magersüchtigen Frauen das Essen zwar rigoros ablehnen, sich aber dennoch ständig mit Essen beschäftigen. Sie lehnen auch ihren Körper ab, konzentrieren sich aber mit allem Denken und Handeln auf ihn. Sie haben Angst vor dem Normalen, dem Mittelmaß, fürchten aber unendlich aufzufallen. Sie haben große Angst vor Trennung, fürchten sich aber gleichzeitig vor Nähe, insbesondere vor intimer, sexueller Nähe.
Hinzu kommen kann die elterliche paradoxe Botschaft Tochter bzw. Sohn und Kind bleiben zu sollen und gleichzeitig als erwachsene Person eigenständig leben zu sollen.

All dies muss jedoch nicht unweigerlich zu einer Magersucht führen. Ein immer größer werdender Druck, besonders für weibliche Jugendliche, schlank zu sein, ist ebenfalls ein wesentlicher Entstehungsfaktor für die Magersucht. Untersuchungen unter dem Motto: »Wie schlank muss ich sein, um dazu zu gehören?«, haben gezeigt, dass der »Eintrittspreis« in eine Gruppe von weiblichen Jugendlichen das Schlanksein ist; männliche Jugendliche dagegen müssen sportlich sein. Nur sehr selbstbewusste Jugendliche können sich über diese Gruppennormen hinwegsetzen.